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Mitte des Monats Mai 2015 kommt es zu einer merkwürdigen Koinzidenz (Zusammentreffen von Ereignissen) in Deutschland. Am Donnerstag wird der unbefristete Streik der Lokführer und ihrer Gewerkschaft GDL überraschend beendet; am Freitag wird im deutschen Bundestag ein Tarifeinheitsgesetz kontrovers diskutiert und mit deutlicher Mehrheit verabschiedet. Kritisiert wird am Tarifeinheitsgesetz, dass es darauf abzielt, mögliche Erfolge kleiner Gewerkschaften wie der GDL zu unterbinden, womit das grundgesetzlich geschützte Streikrecht beschädigt würde. Während die Redner im deutschen Bundestag noch darüber streiten, ob die Vorbereitung des Tarifeinheitsgesetzes die Konflikte bei der Bahn verschärft hat, beginnt dort ein Schlichtungsverfahren, bei dem die Arbeitgeberseite zugestanden hat, dass auch ein Ergebnis möglich ist, das konkurrierende Tarifverträge für gleiche Beschäftigungsgruppen zulässt. Hat die rein staatliche Bahn eine Verabredung getroffen, die das Tarifeinheitsgesetz aushebelt? Oder ist dies nur ein weiterer Trick, um die lästige kleine Lokführergewerkschaft zu eliminieren?

Allein die Bewertung des nicht unbedingt schwierig zu verstehenden Lokführerstreiks schafft mehr Differenzen, als bisher bei Tarif-Auseinandersetzungen zu beobachten waren: Unterstützung bekommen die Lokführer von konservativen Verbandsfunktionen (beispielsweise dem Marburger Bund) wie von linksradikalen Minderheitspositionen in und außerhalb der Partei die Linken. Unterstützer des Gesetzes sind die Mehrheit der Regierungsfraktionen (CDU/CSU, SPD), während fast die komplette parlamentarische und außerparlamentarische Opposition das Gesetz als verfassungswidriges Eingreifen in das grundgesetzlich geschützte Streikrecht einschätzt. Die DGB-Gewerkschaften sind mehrheitlich für das Tarifeinheitsgesetz, die zweitgrößte Gewerkschaft ver.di kündigt aber eine Verfassungsklage an. Prominente Gegner des Gesetzes gibt es viele bei allen Parteien und in allen Organisationen: Heiner Geisler (CDU), Rudolf Dressler (SPD), Gerhart Baum (FDP), Frauke Petry (AfD) …

Streik der lokführer in Berlin

Streik der lokführer in Berlin

Zur besseren Einordnung des Gesetzes und zur Einschätzung aktueller Streiks sollte man etwas weiter in die Vergangenheit zurückblicken. Hilfreich ist auch der Blick auf die nicht unbedingt jedem bekannte Theorie des Korporatismus, die etwa seit den 1980er-Jahren im Rahmen der Politikwissenschaft viele Anhänger gewann, weil der Korporatismus angeblich erklären kann, warum es trotz der Zunahme von sozialer Ungleichheit immer seltener zu sozialen Protesten kommt.

Doch bevor man bis in die 1980er-Jahre oder noch frühere Zeiten zurückgeht, macht es Sinn, nochmals genauer den Tarifkonflikt zwischen Lokführern und deutscher Bahn zu betrachten, der in den Jahren 2007 und 2008 für starke Aufmerksamkeit sorgte und dessen Verlauf bzw. dessen Ergebnisse ausschlaggebend für das neue Tarifeinheitsgesetz werden sollten.

Die Lokführer-Gewerkschaft in den Nullerjahren

Zu Beginn der 21. Jahrhunderts bestand noch weitgehende Einigkeit bei den Gewerkschaften und Organisationen, die im Bereich der Deutschen Bahn agierten. Neben der DGB-Gewerkschaft Transnet gehörten eine Beamten-Organisation und die Lokführergewerkschaft zu einer Tarifgemeinschaft, die gemeinsam von der Bahn bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne erkämpfen wollte. Doch es wurde für die Interessenvertreter der Bahn-Beschäftigten immer schwieriger, sich zu einigen. Beobachter der Szene (z.B. Pascal Beucker) sehen die Gründe hierfür im arbeitgeberfreundlichen Agieren der größten Gewerkschaft Transnet bzw. ihres einflussreichen Vorsitzenden Norbert Hansen.

Diese Kritik wird manchmal so zugespitzt, dass Transnet als „gelbe“ Gewerkschaft eingeschätzt/kritisiert wird. Gelbe Gewerkschaften sind nur scheinbare Interessenvertretungen für Beschäftigte. Sie werden indirekt durch die Gegenseite (Arbeitgeber oder deren Verbände) gesteuert und haben daher eher das Ziel, die Interessen der Arbeitgeberseite zu fördern. Gelbe Gewerkschaften sind für Arbeitgeber in Deutschland interessant, weil man mit ihnen Tarifverträge abschließen kann, die die echten Tarifverträge von richtigen Gewerkschaften unterbieten können.

In den letzten Jahren hat sich allerdings die Rechtsprechung bis hin zu den obersten Bundesgerichten mit dieser Strategie beschäftigt und im Falle von Leiharbeits-Tarifverträgen entsprechende Pseudo-Tarifverträge aufgehoben. Daraus wird deutlich, dass gelbe Gewerkschaften und „getürkte“ Tarifverträge auch für die Arbeitgeber zum Problem werden können, wenn sie nach Jahren der Anwendung schließlich doch als unzulässig eingestuft werden. Geschäftsmodelle im Bereich der Brief- und Paketzustellung müssen auch mit diesem Risiko klarkommen.

Inzwischen gibt es die Transnet nicht mehr und der Vorsitzende Hansen ist auch sichtbar zur Arbeitgeberseite gewechselt, als er einen gut bezahlten Vorstandsjob (Arbeitsdirektor) bei der Bahn übernommen hat. (Hansen ist aber nach dem Wechsel beim Vorstandsvorsitz der Bahn dort nicht mehr tätig.)

Ob die in den letzten beiden Absätzen angedeuteten Einschätzungen und Zusammenhänge vollumgänglich zutreffen, kann dahingestellt bleiben, zumal sie allzu verschwörungstheoretisch klingen. Tatsache ist aber, dass die Lokführer-Gewerkschaft GDL in den Nullerjahren zunehmend eigenständig und auch erfolgreich agieren konnte. Das wurde besonders sichtbar in den Jahren 2007 und 2008. Die Lokführer strebten für sich und weiteres Fahrpersonal einen eigenständigen Tarifvertrag an und setzen diese mit der üblichen Eskalationsstrategie (Urabstimmung, Demonstrationen, Warnstreiks, befristete und unbefristete Streiks) um. Die Bahn als Arbeitgeber versuchte mit juristischen Mitteln dagegen anzugehen, konnte aber im Laufe der Monate mit dieser Taktik nicht wirkliche Erfolg haben, zumal die höheren Instanzen bei den Arbeitsgerichten wesentlich genauer die Argumentationen untersuchten und zu einer weitgehend gewerkschaftsfreundlichen Einschätzungsbasis übergingen.

Koalitionsfreiheit und Verhältnismäßigkeit

Basis für Arbeit von Gewerkschaften ist in Deutschland das Grundgesetz. Im Artikel 9 Absatz 3 ist festgelegt:

Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.

Hier steht zwar nichts über Gewerkschaften und Streikrecht, aber dieser unscheinbare Satz des Grundgesetzes kann nicht anders ausgelegt werden, als dass Gewerkschaften zulässig sind und dass sie ihre spezifischen Mittel (Arbeitskämpfe durchführen, um Tarifverträge abzuschließen) einsetzen dürfen.

Hingegen wurden die eingesetzten Mittel (Streiks) in den 1950er-Jahren eher als sozialschädlich (herrschende juristische Meinung, Mehrheitsmeinung der Regierung und des Bundestages) eingestuft. Streiks und andere Arbeitskampfmaßnahmen hätte man zwar hinzunehmen. Streiks sind aber nur rechtskonform, wenn sie verhältnismäßig sind und dieser Grundsatz wurde eher eng ausgelegt. Diese Grundsatzbewertung ist aber einem Wandel unterworfen. Heutzutage werden Streiks bei den Juristen wesentlich sachlicher gesehen, die Verhältnismäßigkeit wird so konkretisiert, dass nur noch in Extremfällen ein Streikverbot durch Gerichte greifen kann.

Die jeweilige Gewerkschaft muss bestimmte, konkret überprüfbare Bedingungen einhalten, damit ein Arbeitskampf als verhältnismäßig eingestuft werden kann. Hierzu gehört die Einhaltung der Friedenspflicht (Einhaltung eines schon abgeschlossenen Tarifvertrages), Anstreben eines neuen Tarifvertrags (also eines Vertrags der Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen regelt) und das Führen des Arbeitskampfes, so dass die wirtschaftliche Existenz der Gegenseite nicht beseitigt wird. Nicht entscheidend relevant für die Verhältnismäßigkeit sind also die Auswirkungen auf Dritte. Ob diese Meinung tatsächlich als herrschende Meinung einzustufen ist, sei dahingestellt. Der letzte Punkt kann natürlich jederzeit durch eine neue höchstrichterliche Entscheidung (oder durch ein nicht verfassungswidriges Gesetz) „weiterentwickelt“ werden.

Tarifeinheit oder Tarifpluralität

Doch die höchsten Gerichte sind deutlich arbeitskampffreundlicher gestimmt, als die Gerichte in den 1950er-Jahren. Relevant im Zusammenhang mit dem Lokführerstreik von 2007/2008 ist eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts von 2010 relevant, die feststellt, dass auch kleine Gewerkschaften und Organisationen Kampfmittel einsetzen dürfen, um eigenständige Tarifverträge für ihre Mitglieder zu bekommen. Diese Entscheidung wird meist mit der negativen Konnation „Ende der Tarifeinheit“ verknüpft. Tatsächlich hat das Bundesarbeitsgericht – auch nach eigenen Worten – seine bisherige Rechtsauffassung zur Tarifeinheit verändert und für den zu entscheidenden Fall den Begriff der Tarifpluralität angewendet.

Gekürzte Zitate aus der BAG-Entscheidung Meine Anmerkungen
Im streitgegenständlichen Zeitraum bestand bei der Beklagten eine Tarifpluralität.Tarifpluralität liegt vor, wenn der Betrieb des Arbeitgebers vom Geltungsbereich zweier von verschiedenen Gewerkschaften geschlossenen Tarifverträge für Arbeitsverhältnisse derselben Art erfasst wird, an die der Arbeitgeber gebunden ist, während für den jeweiligen Arbeitnehmer je nach Tarifgebundenheit nur einer der beiden Tarifverträge Anwendung findet …… Im untersuchten Fall lagen mehrere gültige Tarifverträge unterschiedlicher Organisationen vor.Tarifpluralität ist nur für den Arbeitgeber relevant. Für den Arbeitnehmer gilt der Tarifvertrag, den seine Gewerkschaft abgeschlossen hat.
In einem solchen Fall ist nach der genannten Rechtsprechung die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers und die „potentielle Möglichkeit“ ausreichend, dass ein der vertragsschließenden Gewerkschaft angehörender Arbeitnehmer im Betrieb beschäftigt ist Der Arbeitgeber hat die Tarifpluralität zu berücksichtigen, wenn es die potentielle Möglichkeit gibt, dass mindestens ein Gewerkschaftsmitglied im Betrieb beschäftigt ist.

Die Tarifpluralität kann negativ verstanden werden, weil dadurch die Tarifeinheit verloren geht. Nutzt eine kleine Organisation die Tarifpluralität, um sich Vorteile gegenüber anderen zu verschaffen, dann ist dies Egoismus und Rosinenpickerei. Allerdings sind auch Fälle denkbar, wo die größere Organisation schon so abgehoben agiert, dass für die kleine Organisation die Tarifpluralität genutzt werden kann, um die Nachteile, die sie und ihre Mitglieder durch die große Organisation erhalten, ganz oder teilweise abgewendet werden.

Genau dies war bei den Konflikten bei der Bahn in den letzten zwei Jahrzehnten relevant. Die Führung der großen Organisation Transnet wolle beim globalen Spiel der Privatsierung und internationalen Ausdehnung mitgestalten und hatte es daher eher versäumt, für die konkrete Tagesinteressen der Bahnmitarbeiter sich stark zu machen. Aus der Privatisierung wurde bisher nicht, Personalabbau, Abbau von Kapazitäten, Tarif-Wirrwarr und gelegentlich sehr volle Züge mit vielen Verspätungen prägen das Bild der Bahn bei den Fahrgästen und der Öffentlichkeit. Stuttgart 21 sollte als Stichwort auch an dieser Stelle nicht fehlen. Dieser überflüssige und überteuerte Tiefbahnhof in Stuttgart prägt das Bild der Bahn weitaus stärker, als die enormen Leistungen, die das umweltfreundlichste aller Verkehrsangebote in Deutschland tatsächlich Tag für Tag bietet.

Exkurs zum guten Bahnangebot, das trotz schlechter PR zu überzeugen weiß

Als gelegentlicher Bahnnutzer und hochmotiviertes Mitglied von Flinkster (sehr flexibles Carsharing-Angebot der Bahn) muss ich trotz Stuttgart 21 und Größenwahn beim Bahnvorstand und den Eigentümervertretern die Deutsche Bahn verteidigen. Tatsächlich erreicht man meist ohne große Verspätung sein Ziel. Überfüllte Züge sind zwar für die mitfahrenden Radler gelegentlich nervig, doch man kommt fast immer mit seinem Fahrrad noch in den Zug. Gelegentlicher Stress wird dadurch relativiert, dass man weiß, dass auch Autofahren in Deutschland oft wenig kalkulierbar ist. Sogar bei den Bahnstreiks der letzten Wochen war es oft sinnvoller mit den berechenbaren Ersatzzügen zum Ziel zu streben, als auf alternative Verkehrsmittel (wie Busse oder das eigene Auto) zu wechseln, wohin sich die Masse der Ängstlichen bewegt, was aber angesichts der dort knappen Kapazitäten kaum als positive Lösung erlebt werden konnte. Tatsächlich hat die Bahn mit ihrem Carsharing-Angebot gezeigt, dass heutzutage ein eigenes Auto nur noch in wenigen Fällen eine sinnvolle Anschaffung ist.

Spielräume für Beschäftigte durch Tarifpluralität

Doch nun weg zu dem durchaus berechtigten Lob zurück zu dem Tarifkampf der Lokführer im Jahre 2008. Nachdem dem Bahnvorstand deutlich wurde, dass er weder mit juristischen noch mit PR-Methoden die Lokführer klein bekommen konnte, machte er schließlich den Weg über eine Schlichtung frei, um zu einem eigenständigen Tarifvertrag mit den Lokführern zu kommen.

Die Antwort der Politik auf die Erfolge kleiner Organisationen

Im politischen Berlin und in den Spitzen vieler gewerkschaftlicher Groß-Organisationen kamen die Erfolge der kleinen Organisationen nicht gut an. Bewiesen sie doch, dass es auch in Zeiten neoliberaler Deregulierung und Hartz-Gesetzen möglich ist, Erfolge zu erreichen, wenn man nur zusammenhält. Der Spruch aus alter Zeit

Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.

wurde wieder wahr. Sogar Minderheiten können zum Vorbild für Mehrheiten werden. Transnet legte sich nicht nur einen neuen Chef, sondern auch einen neuen Namen zu und achtet seit einiger Zeit darauf, dass die Mitgliederinteressen innerhalb der Organisation auch berücksichtigt werden.

Die Erfolge kleiner Organisationen können dann nicht mehr als Ständepolitik eingestuft werden, wenn die Mehrheit der Mitglieder über keine besonderen Privilegien verfügt. Ständeorganisationen wie die Ärzte und die Flugpiloten (die häufig über ein Einkommen verfügen, das innerhalb normaler Tarifverträge nicht vorkommt) prägen nicht mehr allein das Bild. Neben den Lokführern waren es 2010 die Beschäftigten in den Flughäfen, die mit Streiks auf sich aufmerksam machten. Insgesamt vorstellbar wurde es, dass auch unterprivilegiert Beschäftigte es lernten, mit ihren Möglichkeiten des Arbeitskampfs die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und die Arbeitgeber zum Überdenken ihrer Verweigerungshaltungen zu zwingen. Sollte ein alter Kampfruf aus DDR-Zeit in leichter Abwandlung gesellschaftliche Relevanz entwickeln?

Von den Lokführer lernen, heißt siegen lernen.

Doch Spaß beiseite, der Kampf der Lokführer kann tatsächlich auch so eingeschätzt werden, dass kleine Organisationen in modernen Zeiten an Handlungspotential gewinnen und sich von global gelenkten Großorganisationen abwenden können. Schließlich baut der moderne Kapitalismus systematisch jede Art von Puffer ab. Um die deutsche Autoindustrie lahm zu legen, braucht man lediglich bei einem Zulieferer des marktführenden Autobatterie-Herstellers für ein paar Stunden die Produktion einzustellen. Lokführer, Flugpiloten und Fluglotsen sitzen zwar an strategisch auffälligen Stellen. Doch wenn das weitere Kabinenpersonal, die Personenkontrolleure oder das Fahrdienstpersonal der Bahn in den Streik treten, dann ist die entsprechende Dienstleistung genauso gestoppt, wie wenn das herausragendere Personal die Arbeit einstellt.

Die Antwort der Politik und der Großorganisationen des DGB (mit Ausnahme von ver.di), Tarifpluralität ausschließen und Tarifeinheit stärken, kann auch als Versuch eingeschätzt werden, den Anfängen zu wehren und kleineren Organisationen die Handlungsfelder zu begrenzen. Wo kämen wir denn hin, wenn jede kleine Organisation für ihre Mitglieder Interessenpolitik betreiben könnte?

Die Kehrseiten der Tarifeinheit

Hier wird dann schnell von der Englischen Krankheit geredet, um eine beliebte Story aus der neoliberalen Weltsicht vortragen zu können. Angeblich hätten die vielen Streiks von vielen kleinen Gewerkschaften in Groß-Britannien die Wirtschaft in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in die Krise geführt und erst Margret Thatcher sei es gelungen, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Von der Englischen Krankheit ist Deutschland allerdings weit entfernt: Es gibt nur ganz wenige Länder auf der Welt, wo es weniger Streiktage gibt.

alle räder stehen still wenn dein starker arm es will

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Doch den Anfängen soll begegnet werden. Unter dem Slogan der Tarifeinheit, die angeblich seit 60 Jahren hierzulande das „Modell Deutschland“ (SPD-Slogan der 1970er-Jahre) prägt, wird mit dem Tarifeinheitsgesetz das Streikrecht in seiner Substanz angegriffen, wie Kritiker von rechts bis links hervorheben. Dabei ist das Modell der Tarifeinheit durchaus überzeugend; wenn alle Betroffenen auch von den abgeschlossenen Tarifverträgen profitieren würden. Tatsächlich gibt es in vielen Bereichen der Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung jedoch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, für die gar keine Tarifverträge angewendet werden können. Lehrer im Bereich der Sprachschulen werden häufig mit Werksverträgen oder Honorarvereinbarungen beschäftigt, obwohl sie recht eng an Vorgaben gebunden sind, die eher für eine abhängige Beschäftigung sprechen. Insgesamt nimmt in der deutschen Gesellschaft die prekäre Beschäftigung zu, Tarifeinheit nützt dann nichts, wenn durch die Gestaltung der Einzelverträge mit Beschäftigten diese nicht zur Anwendung kommen kann. Sind diese Verträge als Honorar- oder Werksverträge gestaltet, dann greift nicht mal die Absicherung über den Mindestlohn.

Von der Tarifeinheit zum Korporatismus

An dieser Stelle könnte jetzt von den Einzelheiten der Tarifpolitik in Deutschland zu globaleren Theorien gewechselt werden. Doch dieser Perspektivwechsel ist komplex, deshalb hier ein vorläufiges Fazit zu einer längeren Arbeit zum Thema Korporatismus, die erst noch zu schreiben ist.

Nach der Modellvorstellung vielen Experten im Politikberatungsbereich ist die Bundesrepublik Deutschland von Anbeginn an sehr stark über die Verbände (Lobbygruppen, Tarifvertragsparteien) und die mit Ihnen verbundenen „Volksparteien“ gesteuert worden. Demokratie verwirklicht sich nach dieser Idee nicht als offene Diskussion relevanter Fragestellungen mit öffentlich nachvollziehbarer Entscheidung, sondern als Expertenauseinandersetzung im wenig öffentlich ausgeleuchteten Diskussions- und Verhandlungsgremien. Demokratie ist nicht das Ergebnis eines herrschaftsfreien Diskurses im Sinne von Jürgen Habermas, sondern Akzeptanz gegenüber Entscheidungsverfahren, wo Experten und Großverbände sich über die richtige Gestaltung des Gemeinwohls Gedanken gemacht haben.

Das Modell des Korporatismus könnte gut funktionieren, solange es überwiegend nur Gewinner gibt. Dies kann für die Zeit der 1950er- bis 1960er-Jahre in der alten BRD unterstellt worden, als tatsächlich viele Einzelne von den Segnungen des „Wirtschaftswunders“ Vorteile für sich ableiten konnten. Zwar gab es auch hier noch Verlierer, doch diese hatten kaum Möglichkeiten, auf öffentliche Wahrnehmung oder Interessenvertretung.

Erst mit der ersten Wirtschaftskrise nach dem zweiten Weltkrieg (etwa ab 1965) und weiteren Krisen wurde deutlich, dass auch der Korporatismus mit Ausschlüssen und Diskriminierung zu tun hat. Es gab dann tatsächlich in der BRD wilde Streiks und innerhalb von mehreren großen Gewerkschaften aktivierten sich oppositionelle Strömungen. Auch innerhalb der SPD ging die alte Einheit verloren bzw. kam zu es Abspaltungen und schließlich zu zwei erfolgreichen Partei-Neugründungen. Man kann diese Prozesse als Krise der Modernisierung, als Legitimationskrise des Spätkapitalismus oder als Krise des Korporatismus deuten: Immer mehr Benachteiligte werden aktiv und brechen aus der von oben verordneten Ruhe für die Wirtschaft aus.

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